Falsche Wahrheiten und echte Fälschungen: Philip K. Dicks Roman „Das Orakel vom Berge“. Weit mehr als eine beliebige historische Spekulation. Ein Science Fiction Book-Review

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Philip K. Dick

Das Orakel vom Berge

(The Man in the High Castle, 1962)

Fischer Taschenbuch. 272 Seiten

Deutsche Übersetzung: Norbert Stöbe

Die TV-Serie: The Man in the High Castle

Ab Mitte Dezember 2015 ist eine zehnteilige TV Miniserie mit dem Titel The Man in the High Castle auf dem Internet Upstream Service von Amazon Video zu sehen. Es handelt sich um die Fernseh – Adaption des (im englischen Original) gleichnamigen Romans von Philip K. Dick. Die Serie wurde im wesentlichen geschaffen von Frank Spotnitz (X-Files) als Creator und Ridley Scott (Regisseur von Blade Runner, ebenfalls eine Philip K. Dick Adaption) als Executive Producer.

Dieser Review ist nicht über diese aktuelle TV-Serie sondern über das zugrundeliegende Buch.

In Kürze (für den eiligen Leser und die vermutlich noch eiligere Leserin):

Die Achsenmächte haben den zweiten Weltkrieg gewonnen. Und Amerika unter sich aufgeteilt. Der Roman spielt Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts und erzahlt die Geschichte von ein paar Leute in Kalifornien zu dieser Zeit.

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Das Orakel vom Berge ist weder ein Horrorspektakel wie Schindlers Liste noch ein Action Klamauk nach dem Motto: Aufrechte Amerikaner im Widerstand.

Es ist auch keine reine historische Spekulation.

Es ist ein Buch über ganz normale Menschen in einer zugegebenermaßen bizarren Welt. Über ihren Alltag. Die zunehmende Bedrohung durch die Nazi-Tyrannei. Und über das merkwürdige Gefühl, daß die Dinge nicht so sind wie sie erscheinen.

Der Autor: Philip K. Dick

Philip K. Dick (1928 – 1982) ist der vielleicht bedeutendste amerikanische Science Fiction Autor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die zentrale Frage in seinem Werk von etwas mehr als 30 Romanen und ca. 120 Kurzgeschichten ist im Grunde immer dieselbe: Können wir die uns vorgegebenen Dinge als real hinnehmen? Und die Antwort, in jedem seiner Romane, in jeder seiner Kurzgeschichten lautet: Nein. Irgendjemand oder irgendetwas manipuliert uns. Die Dinge sind eben nicht so real wie sie erscheinen.

Das können z.B. täuschend menschenähnliche Androiden sein. Die vielleicht gar nicht wissen, daß sie keine Menschen sind. Die Erinnerungen und Gefühle haben und sich im Zweifelsfall menschlicher verhalten als wir selbst.

Oder halluzinogene Drogen in der Trinkwasserversorgung. Die eine kollektiv andere Wahrnehmung der Wirklichkeit erzeugen.

Oder auch: Das sogenannte Charisma einer Person, die andere dazu manipuliert, die Dinge so zu sehen wie sie es will.

Das Buch: Das Orakel vom Berge

Der deutsche Titel des Romans ist Das Orakel vom Berge. Er erschien 1962 und ist neben Ward Moores Der große Süden (Bring The Jubilee, 1953) der bekannteste und sicher auch bedeutendste amerikanische Alternate History Roman der Science Fiction.

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Amerikanische Originalausgabe aus dem Jahr 1962

Wir befinden uns in Kalifornien Anfang der 1960er Jahre, genauer gesagt in San Francisco. Fast beiläufig erfahren wir, daß dieses Nordamerika irgendwie anders ist als wir es zu kennen glauben. Daß hier – an der Westküste – das japanische Kaiserreich das Sagen hat, während der Osten sich unter der Herrschaft des Deutschen Reiches befindet. Mit anderen Worten: Die Achsenmächte, und nicht die Alliierten, haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen.

Ebenso beiläufig erfahren wir auch, wie es dazu gekommen ist. 1933 fällt der gerade zum US-Präsidenten neugewählte Franklin D. Roosevelt noch vor seinem Amtsantritt einem Attentat zum Opfer. Dieser Attentatsversuch ist historisch belegt; in unserer – sagen wir: wirklichen – Geschichte scheiterte er jedoch. Im Roman Dicks verfolgt der Präsident, der anstelle des ermordeten Roosevelts antritt, eine andere, nämlich isolationistische US Außenpolitik mit stark reduzierten Rüstungsmaßnahmen. Folge: Die USA haben dem japanischen Kaiserreich militärisch nicht viel entgegenzusetzen: Beim Angriff auf Pearl Harbour wird die gesamte US Pazifikflotte vernichtet (und nicht nur Teile, wie in unserer Geschichte) – die Vorentscheidung im Pazifikkrieg.

Die Deutsche Luftwaffe entdeckt die getarnten Radaranlagen der Briten an der Kanalküste und zerstört sie. In unserer Geschichte übersieht sie diese Frühwarnsysteme. Folge: Das Deutsche Reich siegt in der Schlacht um England. Damit fallen die Engländer auch in Nordafrika aus und können den Sowjets so nicht die benötigte Hilfe (das heißt den Zugang zu den Ölfeldern) südlich des Kaukasus und im Nahen Osten bringen. Die Schlacht um Stalingrad findet nicht statt.

Und so weiter und so weiter, der Rest ist – wie man so schön sagt – Geschichte. Keine Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Kapitulation der Alliierten 1947. In Europa werden Juden, Slaven und andere Völker gemäß der nationalsozialistischen Ideologie ausgerottet. Und die USA werden praktisch aufgeteilt.

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Die Aufteilung der Welt nach Philip K. Dicks The Man in the High Castle

Das Buch ist voller teilweise bizarrer spekulativer Ideen: Das nationalsozialistische Deutschland legt das Mittelmeer trocken, um Neuland für Obst- und Gemüseplantagen zu kreieren. Afrika wird durch Bomben und Feuer in einen Wüstenkontinent verwandelt. Und der amerikanische Komiker Bob Hope produziert TV-Propagandanummern für die nationalsozialistischen Pläne zur Kolonisierung des Mars.

Von falschen Wahrheiten und echten Fälschungen

Wie gesagt, Dick schildert all dies eher beiläufig.

Der Roman handelt in der Hauptsache von ein paar eher unspektakulären Menschen in Kalifornien und in den Rocky Mountains, von ihrem täglichen Leben und dem beginnenden Zweifel darüber, ob dieses Amerika wirklich real ist. Oder vielleicht eine – sagen wir mal – Fälschung? Diese Idee jedenfalls suggeriert ein geheimnisvolles Buch mit dem merkwürdigen, irgendwie biblisch kingenden Titel The Grasshopper Lies Heavy.

Nur am Rande: Der Titel dieses Buch-im-Buchs bezieht sich auf ein Zitat aus dem Alten Testament. Buch Kohelet: „Die Heuschrecke schleppt sich dahin“. Whatever.

Jedenfalls: Von den Nazis verboten, von denen Japanern bestenfalls toleriert, macht dieses Buch unter der Hand die Runde im Westen Nordamerikas. Es ist ein Buch über eine alternative Geschichte – über ein Amerika nach einem von den Alliierten gewonnenen Weltkrieg. Stellt sich nur die Frage – Wahrheit oder Fälschung?

Apropos Fälschung. Da ist zum Beispiel Robert Childan. Führender Antiquitätenhändler in San Francisco. Spezialgebiet Memorabilien aus der US Geschichte. Historische Waffen und Accessoires. Zum Beispiel ein original Colt .44 von 1860. Wurde im amerikanischen Bürgerkrieg bei den Schlachten am Bull Run verwendet. Echtheit garantiert. Childans Klientel ist die japanische Oberklasse – und die ist verrückt nach derartigen Sammlerstücken. Eines Tages kommt so ein Typ in seinen Laden und erklärt salopp, es handele sich bei dem Colt – und ebenso bei den meisten anderen Teilen von Mr. Childans Handelsware schlicht um Imitate. Nichts als Fälschungen. Das Schlimme ist, wie sich – nach eingehender Untersuchung – herausstellt: Der Typ hat Recht.

Der Typ heißt übrigens Frank Frink. Ein arbeitsloser Feinmechaniker. Der sich durch diese Aktion an seinem früheren Arbeitgeber für die Kündigung rächen will. Diese Firma ist nur vordergründig eine harmlose Gießerei – dahinter verbirgt sich eine Fälscherwerkstatt. In der Mechaniker wie Frinck eben diese Imitate für den Markt gutbetuchter Japaner herstellen. Und zwar en gros. Als Hauptlieferant für Robert Childans garantiert echte Antiquitäten.

Mr. Frinck hat im Übrigen nicht nur Antiquitäten sondern auch seinen Lebenslauf gefälscht. Um seine jüdische Herkunft zu verbergen. Ein gefälschter Pass: Aus Frank Fink wurde Frank Frink. Schließlich machen auch in Amerika die Nazis Jagd auf Juden. Um diese dann in europäischen Konzentrationslagern zu ermorden.

Frinks Ex-Frau heißt Juliana Frink. Lebt als Judo-Trainerin in den Rocky Mountain States of America (ein Marionettenstaat, kontrolliert vom Deutschen Reich). Hat eine Affäre mit einem italienischen Trucker. Der ist aber in Wirklichkeit ein schweizer Agent des deutschen „Sicherheitsdienst“ (SD, die unter Reinhard Heydrich stehende Geheimdienstabteilung der SS). Und diese Organisation nun wieder ist überaus interessiert, den mysteriösen Autor des Grasshoppers zu verhaften oder umzubringen.

Dieser Autor, Hawthorne Abendsen, lebt aus Angst vor den Deutschen in einem versteckt liegenden Haus in den Rockies. Er ist der Man in the High Castle, auf den sich der Originaltitel bezieht.

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Aus der Werbung für die TV Serie „The Man in the High Castle“

Machtkampf im Berlin

Die Verhältnisse im fernen Deutschland nehmen zunehmend Einfluss auf das Leben der Protagonisten in Amerika. Adolf Hitler vegetiert schon seit langem wegen eines Syphilisleidens in einem Sanatorium. Sein Nachfolger, der greise Martin Bormann, stirbt. Ein Machtkampf entbrennt in Berlin zwischen konkurrierenden Parteigrößen wie Hermann Göring, Reinhard Heydrich und Josef Goebbels. Deren jeweilige Reichs- und Parteiorganisationen ringen um Einfluss – auch in Amerika.

In San Francisco versucht Rudolf Wegener, ein als schwedischer Ingenieur getarnter Agent der deutschen Spionageabwehr, Kontakt zu Nobusuko Tagami, dem außerordentlich einflußreichen Leiter der japanischen Handelskommission aufzunehmen. Um die Japaner vor einem Plan Goebbels‘ zur Eroberung Japans durch das Deutsche Reich zu warnen. Wegener ist nur scheinbar ein Agent der Nationalsozialisten. Er outet sich gegenüber den Japanern als Widerständler. Und wird nach Rückkehr in Berlin von der Waffen-SS verhaftet.

Und so weiter und so fort. Dicks Roman erzählt im Wesentlichen die Geschichte dieser Charaktere verschiedener sozialer Klassen und ethnischer Herkunft. Darüber, wie sie ihre eigenen persönlichen Siege und Niederlagen erleben in einer Welt der Scheinwirklichkeit und Fälschungen.

Das Orakel vom Berge ist ein unglaublich, ja fast irritierend komplexer und vielschichtiger Roman. Und das trotz der sehr moderaten Länge von ca. 270 Seiten in der deutschen Ausgabe. Es gibt nicht eine oder zwei Hauptpersonen, keine direkt gradlinige Handlung. Stattdessen mindestens fünf verschiedene Handlungsstränge, jeweils aus dem Blickwinkel der Protagonisten erzählt, mit dem inneren Monolog als wesentlichem narrativen Mittel. Die meisten dieser Charaktere begegnen sich nicht einmal in diesem Roman: Ihre Handlungen haben mehr oder weniger indirekte Auswirkungen auf die anderen.

Gemeinsam ist bei allen die zunehmende Bedrohung durch die Nazis, das Unbehagen darüber, daß nichts und niemand so ist wie es erscheint und der Wunsch zur Klärung was wahr ist und was Fälschung.

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Aus der Werbung für die TV Serie „The Man in the High Castle“

Vielleicht weiss ja ein chinesisches Orakel, was zum Teufel denn nun die objektive Wahrheit ist? 

Und das Ende? Juliana ist fasziniert von dem geheimnisvollen Buch. Was wäre, wenn es die Wahrheit erzählte? Wenn die Amerikaner und ihre Verbündeten tatsächlich gewonnen hätten? Und wie kam der Autor zu dieser alternativen Sicht?

Also macht Juliana sich auf, ihn ausfindig zu machen, zur Rede zu stellen und – last not least – vor den nach ihm suchenden Nazis zu warnen.

Eine entscheidende Rolle spielt das uralte chinesische Orakel I Ging, das Abendsen beim Schreiben des Grasshoppers zu Rate zog.

Nebenbei:  In einem Interview erzählt Philip K. Dick einmal,  auch selbst dieses Orakel beim Entwurf der Handlung seines Roman verwendet zu haben.

Ein offenes Ende. Verschiedene Wirklichkeiten. Willkommen in der Welt des Philip K. Dick 

Das Orakel vom Berge lässt den Leser durch ein offenes Ende am Schluss ein wenig ratlos zurück. Fragen bleiben offen, und dies ist von Kritikern zuweilen bemängelt worden.

Nebenbei: Philip K. Dick verfasste den Anfang (ca. 30 Seiten) für eine Fortsetzung, die jedoch nicht vollendet wurde.

Die naheliegende Interpretation ist die, dass Das Orakel vom Berge nicht nur ein Alternate History Roman ist, sondern – und vor allem – ein Roman über Paralellwelten. Wir haben es hier im Grunde mit drei verschiedenen, parallelen Wirklichkeiten zu tun.

Zum einen die anfangs real erscheinende Welt des Romans, in der die Achsenmächte den Krieg gewonnen haben.

Zum Zweiten die Welt, in der wir (d.h. die Leser) leben, in der also die Alliierten letztlich die Siegermächte waren.

Und zum Dritten die Welt des Grasshoper Lies Heavy, in der zwar auch die Allierten den Sieg davontrugen, die aber dennoch nicht die unsere ist. Dies wird an vielen Details klar: So steigen im Grasshopper die Briten zur wichtigsten Supermacht nach dem Krieg auf und Winston Churchill wird zu einer zweiten Amtszeit wiedergewählt.

Diese drei Wirklichkeitsebenen existieren bei Dick prinzipiell unabhängig voneinander. Hin und wieder kommt es jedoch zu Überlappungen: Nobusuko Tagami erlebt eine solche in San Francisco, als er während einer psychologischen Krisensituation unvermittelt und vorübergehend in das San Francisco unserer Wirklichkeit versetzt wird. Vielleicht ist es aber auch die Grasshopper-Wirklichkeit?

Wie dem auch sei: Tagami ist jedenfalls außerordentlich irritiert: In einem voll besetzten Restaurant werden ihm nicht wie gewohnt – und seinem Status als Repräsentant der Siegermacht entsprechend – sofort Plätze von den amerikanischen Gästen zur Verfügung gestellt. Und auf seinen höflichen aber doch bestimmt vorgetragenen Hinweis wird er mit Ausdrücken in – sagen wir – eher derber Sprache bedacht.

In letzter Konsequenz gibt es bei Philip K. Dick eben keine eindeutige Wirklichkeit.

Fazit

Es ist ein Mißverständnis, Das Orakel vom Berge als reine historische Spekulation anzusehen. Der Roman wurde 1960 verfasst, zu einem Zeitpunkt also, als die historische Forschung zu den Themen WWII und Nationalsozialismus angesichts der damaligen Quellenlage noch in den Anfängen steckte.

Und es ist auch kein Action Spektakel nach dem Motto: Aufrechte Amerikaner decken Nazi – Verschwörung auf.

Es ist sehr viel mehr: Das was in Erinnerung bleibt, sind diese ganz gewöhnlichen Menschen – Childan, Frink, Tagomi, Juliana, Wegener und die anderen – und ihre Geschichten.

Ihre Werte, ihre Konflikte und das Bestreben, herauszufinden was sich hinter der Scheinwirklichkeit und hinter den Fälschungen verbirgt. Sie erleben ihre Niederlagen (und bei Dick gibt es deren nicht wenige) aber sie geben nie auf.

Kein Happy End, aber auch keine Resignation, kein Zynismus und kein Nihilismus.

Deswegen, und auch wegen seiner irren Komplexität und Vielschichtigkeit ist Das Orakel vom Berge weit mehr als eine beliebige historische Spekulation. Ein Meisterwerk – wenn auch vielleicht nicht für jedermann.

(Hamburg im Dezember 2015. Dieser Review ist die überarbeitete Fassung einer Rezension, die ich 2010 auf dem Internet Portal www.phantastikcouch.de/ veröffentlicht habe) 

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