Patience (2016)
Story und Art: Daniel Clowes
180 Seiten
Verlag: Fantagraphics (USA)
(Dt. Ausgabe erscheint unter gleichem Titel im März 2017 beim Verlag Reprodukt)
Die neue Graphic Novel des Ghost World und Wilson Schöpfers Daniel Clowes wurde in den USA hoch gelobt und stand 19 Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times. Ich fand das Buch zwar gut, kann mich dem Hype aber nicht ganz anschließen
Positiv
- Hoher Unterhaltungswert, kurzweilig und temporeich
- Konsistente und gut strukturierte Zeitreisegeschichte
- Ansatzweise gelungene Milieubeschreibung der weißen amerikanischen Unterschicht
Negativ
- Kein wirklich origineller Neubeitrag, da es schon eine Vielzahl von Kurzgeschichten, Romanen oder Filmen mit ähnlicher Thematik gibt
- Love Story beindruckt weniger, da die Charakterisierung der Protagonisten eher blass bleibt
- Reduzierte graphische Gestaltung: Eher Cartoon als Comic Art
Score
3,5 / 5,0
Wir befinden uns im Jahr 2012 irgendwo in einer Großstadt des mittleren Westens der USA. Jack Barlow und seine schwangere Frau Patience sind ein junges Paar der weißen amerikanischen Unterschicht.
Wie viele andere in dieser Schicht sind auch die Barlows arm (und in den USA heißt das WIRKLICH ARM angesichts des praktisch nicht vorhandenen Sozialstaats). Jack hat einen lausigen Job auf der Straße als Verteiler von Werbebroschüren eines Nachtclubs, und angesichts ihres geringen Ausbildungsniveaus haben beide um Grunde keine wirkliche Perspektive.
Was sie aufrecht hält sind ihre Liebe und die freudige Erwartung auf ihr Kind. Für Jack ist die Nachricht der Schwangerschaft (die sie zu Beginn des Buches erhalten) ein starker Anschub, sich um einen halbwegs gut bezahlten festen Job zu bewerben.
Das alles wird jäh zerstört, als ein Unbekannter Patience während Jacks Abwesenheit in ihrer gemeinsamen Wohnung ermordet. Dieser tragische Vorfall bringt das Leben des jungen Ehemanns total aus dem Gleichgewicht.
Voller Trauer und Rachegefühle und frustriert darüber, dass die Polizei – nachdem sie ihn selbst monatelang als Hauptverdächtigen in U-Haft steckte – die schludrig geführten Ermittlungen sehr schnell einstellte und den Fall als „ungelöst“ abhackte, bemüht er sich nach seiner Entlassung selbst darum, den Schuldigen zu finden – zunächst ergebnislos.
Siebzehn Jahre vergehen (in denen Jack im Grunde am Rande der Gesellschaft dahinvegetiert), bis er 2029 mehr oder weniger zufällig an eine (von einem zwielichtigen Typen geheim hergestellte) chemische Substanz gerät, die Zeitreisen in die Vergangenheit ermöglicht.
Von nun an steht sein Plan fest (und die Geschichte fängt hier erst richtig an): Er will in die Vergangenheit reisen, um in der Jugendzeit seiner Frau (also Mitte der 2000er Jahre) Hinweise auf den späteren Mörder zu finden.
Patience hatte seinerzeit nie mit ihm über ihre düstere Jugendzeit sprechen wollen. Nach dem Mord hatte jedoch Patiences Stiefschwester angedeutet, dass ihre Schwester damals einige Beziehungen mit ausgesprochen dubiosen und kriminellen Jugendlichen unterhielt, unter denen Jack den Mörder vermutet.
Sein Plan sieht vor, den (späteren) Mörder zu identifizieren und diesen durch einen gezielten Eingriff (sagen wir: Mord) in der Vergangenheit auszuschalten. Er hofft hierdurch, den zukünftigen Mord an Patience zu verhindern, diesen Schicksalsschlag sozusagen zu reparieren und dann wieder in seine Gegenwart zurückzukehren um mit Patience und dem Kind zusammen glücklich bis ans Ende aller Tage weiterzuleben.
Soweit der Plan.
Nun sind Reisen in die Vergangenheit so eine Sache: Da muss man höllisch aufpassen, dass man durch unbedarftes Eingreifen in der Vergangenheit nicht Dinge auslöst, die die Kausalität von Ereignissen und Wirkungen im Zeitablauf durcheinander bringen. Da kann es sehr schnell passieren, dass ein sogenanntes Zeitparadoxon entsteht.
Klassisches Beispiel: Hätte ich eine Zeitmaschine zur Hand, könnte ich (wenn ich das wollte) in die Vergangenheit reisen und – sagen wir mal – verhindern, dass mein Großvater meine Großmutter kennenlernt.
Damit würde es meinen Vater und in der kausalen Folge mich gar nicht geben. Was passiert dann aber mit mir (dem Zeitreisenden) und meinen in der Gegenwart lebenden Kindern (wenn ich denn welche hätte)?
Hätte es mich aber nicht gegeben, so wäre ich ja auch nicht in die Vergangenheit gereist und mein Großvater hätte meine Großmutter eben doch kennengelernt. Und dann hätte es meinen Vater und mich (und natürlich auch die nicht vorhandenen Kinder) doch gegeben.
Hä?
OK. Also erstens sollte man in einer solchen Situation den Konjunktiv besser beherrschen als ich, und zweitens rate ich jedem potentiellen Zeitreisenden während seines Trips in die Vergangenheit zu sehr zurückhaltendem Verhalten. Strikt. Goldene Regel.
Und genau das macht Jack eben nicht.
Und die Sache geht natürlich gründlich in die Hose. Da er während seiner Zeitreise ständig die Kontrolle über seine Emotionen verliert und durch unbedachtes Eingreifen Prozesse auslöst die Auswirkungen in der Gegenwart haben müssen. Die Geschichte wird – nach teilweise ungeplanten weiteren Sprüngen in die Vergangenheit – zunehmend amüsanter und turbulenter. Nie – das muss man Jack lassen – verliert er jedoch sein eigentliches Ziel aus den Augen…
Was hat mir gut gefallen?
Daniel Clowes ist zweifellos ein sehr guter Erzähler. Der Roman ist äußerst kurzweilig, auch durch die geschickten Wechsel der Szenen und Zeitebenen. Langeweile tritt an keiner Stelle auf.
Auch als Science Fiction Comic ist Patience handwerklich gut gelungen. Clowes deutet zwar augenzwinkernd an einigen Stellen an, dass er sich mit den theoretischen Aspekten einer Zeitreise eingehend beschäftigt hat, lässt aber die Story eher für sich sprechen als dass er den Leser mit Sci Fi – Gebrabbel nervt (so wie ich weiter oben).
Und diese Story ist konsistent strukturiert, wohl durchdacht und umgesetzt. Clowes überlässt nichts dem Zufall: Jedes Handlungsdetail hat seine Berechtigung im großen Handlungs- und Zeitrahmen, was übrigens keineswegs eine Selbstverständlichkeit bei Geschichten ist, die sich mit dem Thema der Zeitreise und den damit verbundenen Aspekten von Kausalität, Zeitparadoxon und so weiter beschäftigen.
Zumindest ansatzweise gut gelungen ist auch die Milieustudie der weißen Unterschicht im mittleren Westen der USA – jener Schicht also, die zu den Kernwählern des neuen US Präsidenten Donald Trump zählten. Als Redneck Girl und White Trash (also „Rotnacken – Mädchen“ und „weißer Abschaum“) beschreibt sich Patience selbst einmal an einer Stelle der Geschichte.
Jedoch erreicht hier das Medium des graphischen Romans irgendwo seine Grenzen – jedenfalls habe ich die Schilderung dieser sozialen Schicht in der US (Prosa) Literatur schon deutlich intensiver erlebt, so z.b. in den Romanen von Daniel Woodrell (beispielsweise in Winter’s Bone oder in seiner Bayou Trilogie.)
Was hat mir nicht so gut gefallen?
Das liegt vielleicht zugegebener Maßen einfach nur an mir: Ich beschäftige mich seit ca. 35 Jahren mit Sci Fi Geschichten jeder Art in allen Medien (Comics, Stories, Romane, Kino und TV) und insbesondere das Untergenre der Zeitreise / Zeitparadoxon – Geschichten hat mich schon immer interessiert.
Daher stellte sich bei mir an keiner Stelle ein „Wow“ Effekt ein. Häufiger allerdings das Gefühl, dieses oder jenes schon einmal an anderer Stelle gelesen (oder gesehen) zu haben. Und zwar besser.
Beispielsweise bei Robert A. Heinleins Kurzgeschichte By His Bootstraps (1941, deutscher Titel: „Im Kreis) oder in The Men Who Murdered Mohammed (1958, deutscher Titel: „Die Mörder Mohammeds“) von Alfred Bester. Oder auch in der einen oder anderen Dr. Who Episode…
Für den geneigten Leser (und die geneigte Leserin), die noch nicht so viele Zeitreise Geschichten kennen, gilt aber: Vergesst einfach, was ich eben gesagt habe und genießt diese sehr gut erzählte Sci Fi und Love Story.
Ach ja, die Love Story. Die wurde von den amerikanischen Kritikern hoch gelobt, so nach dem Motto: Eine Liebe, die durch alle Zeiten geht!
Schön und gut, aber ohne entsprechende tiefere Charakterisierung der handelnden Protagonisten sind das für mich nur hohle Phrasen.
Von Jack und Patience erfährt man eigentlich vor allem, dass beide sozusagen Opfer ihrer sozialen Schicht sind. Und dass insbesondere Patience eine ausgesprochen schwierige Kindheit und Jugendzeit hatte.
Ansonsten bleiben sie für mich doch eher zu blass, als dass ich Patience als Beziehungsdrama besonders beeindruckend empfunden hätte. Aber gut, das ist diskutierbar, und hier kann man natürlich auch ganz anderer Meinung sein.
Und die Graphik?
Die steht deutlich zurück gegenüber der Story. Gerade so gut, dass man erkennt was wann und wo so gerade vor sich geht. Eine Mischung aus der franko-belgischen Ligne Claire (bestenfalls) und den täglich erscheinenden Cartoons der US Tageszeitungen. Alles alles andere jedenfalls als eine graphische Offenbarung.
Fazit
Patience ist eine spannend und kompetent erzählte Zeitreise Geschichte vermischt mit einer mehr oder weniger anrührenden Love Story. Beides ist o.k., hat mich aber keineswegs umgehauen. Und die Graphik ist für meinen Geschmack zu sehr Cartoon als Comic Art.
Was noch interessant ist: Im Dezember 2016 wurde bekannt, dass die amerikanische Filmproduktionsgesellschaft Focus Features die Rechte für eine Kino – Adaption erworben hat, für die Clowes selbst das Drehbuch schreiben soll. Dieser hatte bereits 20o2 eine Oskar – Nominierung für das Drehbuch zum Film Ghost World (von Terry Zwigoff mit Thora Birch, Scarlett Johannson und Steve Buscemi) nach seinem eigenen Comic Roman erhalten.
Ich kann mir daher sehr gut vorstellen, dass ein gut inszenierter Film auf der Basis von Patience mit den richtigen Schauspielern zu einem wirklich großen Hollywood Kino – Erfolg werden könnte.